Grenzenlos

Grenzenlos

Oft habe ich mich gefragt, was die Menschen bewegt, die auf der Straße leben und ob sie etwas oder jemanden haben, von dem sie träumen. In Hamburg leben derzeit 32.000 Wohnungslose1 und offiziell 2.000 Obdachlose2. Einer von ihnen ist Gheorghe, ein Mann mittleren Alters im sportlichen Outfit und mit sanftem Blick. Per Google Translator erkläre ich ihm kurz die Projektidee und er willigt spontan ein, ein paar Fragen zu beantworten, weil er sich freut, dass sich jemand für seine Lebenssituation interessiert. 

Gheorghe arbeitet als „Hinz & Kunzt”-Verkäufer. Fast täglich steht er vor dem Supermarkt in der Saseler Straße und wartet auf Kundschaft. Ob er bereit ist, mit mir über das Thema zu sprechen? Auf die Frage, welche Sprache er spreche, antwortet er „Rumänisch” und – etwas schüchtern – „Français, un petit peu”.

Gheorghe Boca erzählt, dass er aus Rumänien, genauer gesagt aus Târgoviște in der Walachei, kommt und häufig pendelt. Erst vor einer Woche ist er zurückgekehrt. „Ich fahre immer hin und her. Einen Monat bin ich dort und dann komme ich wieder für einen Monat zurück.” Warum er das macht? „In Rumänien ist es schwierig mit dem Geldverdienen.” Deshalb ist er hier und verkauft das beliebte Straßenmagazin, das gerade seinen 30. Geburtstag feierte.

Im Moment lebt er allein und ist Single. „Ich schlafe in einem Park unter freiem Himmel – à la belle nature.” Zuhause in Rumänien hat er Familie, unter anderem seine Cousins. Eine Frau hat er nicht mehr. Sie ist bereits gestorben. Dafür gibt es einen Menschen, den er über alles liebt. Das ist sein achtjähriger Sohn Davit. Sofort holt er sein Handy heraus und sucht nach einem Foto von ihm. Er vermisst ihn sehr. Das betont er immer wieder. In zwei Monaten erst wird er ihn wiedersehen.

„Mon garçon!” (Mein Junge!)

Gheorghe

Wunsch
Gern würde er ihm einmal ein richtig großes Geschenk machen. Wenn er könnte, würde er Davit am liebsten ein schickes Fahrrad kaufen. 

Dann erzählt Gheorghe, dass er die Zeitung „Hinz & Kunzt” für 2,20 Euro an den Mann bringt. „Heute habe ich erst eine einzige Zeitung verkauft!”, erzählt er entmutigt. „Das ist nicht viel!” Deshalb möchte er jetzt auch lieber weiterarbeiten und verabschiedet sich. 

Danke, Gheorghe, für deine Offenheit und die spontane Bereitschaft, einen kleinen persönlichen Einblick in dein Leben zu geben. Das Gespräch motivierte mich noch einmal mehr, den alternativen Hamburg-Stadtrundgang von „Hinz und Kunzt“ zu erleben, den Chris, ein ehemaliger Obdachloser, mit viel Herzblut gestaltet. Spoiler: Es lohnt sich, die Perspektive zu wechseln und ja, er wird auch von der Liebe erzählen …


  1. Wohnungslose haben keine eigene Wohnung, sondern schlafen beispielsweise in wechselnden Wohnungen von Bekannten und Freunden oder sind öffentlich untergebracht. Im letzten Jahr war starker Anstieg zu verzeichnen. ↩︎
  2. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Zum Kontrast: In Hamburg leben derzeit 42.000 Millionäre und etliche Milliardäre. ↩︎