Märchen

Märchen

Ein sonniger Tag wartet auf mich. In jeder Hinsicht. Was ich gleich hören werde, ist eine kostbare und bezaubernde Liebesgeschichte, die das Herz öffnet. Horst, ein Bewohner aus dem Seniorenheim Nordlandweg, schrieb uns den Anfang einer wunderschönen Liebesgeschichte und ich wollte wissen, wie sie weitergeht.

„Ich hab immer gedacht, so mit Schmetterlingen im Bauch, ist ein Märchen … aber plötzlich ist das passiert!“

Horst

Sprachlos
Horst ist 88 Jahre alt. Mit 50 Jahren fand er seine große Liebe. Wie ein Blitz schlug sie ein. Alles begann auf einer Hochzeit im Rheinland. Als er seine Liesel zum ersten Mal sah, verschlug es ihm die Sprache: „Und dann stand ich vor der Frau und wir beide, die im Grunde immer viel zu erzählen haben, wussten gar nicht, was wir sagen sollten. Das war mindestens zwei, drei Minuten und dann haben wir uns angeguckt und ich hab gedacht ‘Hoffentlich denkt sie nicht, ich bin nicht ganz normal’, weil ich nichts mehr sagen konnte.”


Dann haben sie sich kennengelernt, sind miteinander ins Gespräch gekommen und haben Telefonnummern ausgetauscht. Sie war sechs Jahre jünger als er und lud ihn nach einigen Treffen ein, mit ihm einen “Test” zu machen. Aufgeregt fuhr er ins Rheinland. “Dann haben wir den Test gemacht. So was Schönes habe ich in meinem Leben noch nicht erlebt und wir waren beide sprachlos! Dass ich in meinem Alter noch mehrere Male zeugungsfähig war und dass es so schön war. Toll! Ich war total hin! Hinterher haben wir nur erzählt, erzählt, erzählt. Es war fast wie ein Märchen.” Horst schrieb früher übrigens selbst gern Märchen.

Seine erste Ehe war in die Brüche gegangen, weil seine Frau fremdging. Horst war dadurch vorsichtiger und misstrauisch geworden. Aber bei Liesel empfand er alles “wie ein Wunder, mit Schmetterlingen im Bauch.” Bis heute ist er dankbar, dass er seine große Liebe gefunden hat.

Fernbeziehung
Zwei Jahre lang führten die beiden eine Fernbeziehung. „Ich habe jeden Abend telefoniert. Manchmal auch zweimal am Tag, morgens und abends. Liesel wusste ja, wann ich komme, aber die konnte es auch kaum abwarten.“ Jedes Wochenende fuhr Horst 465 Kilometer bis ins Rheinland und sonntagnachts jeweils zurück. Auf dem Hinweg fuhr er manchmal 180, um schneller bei seiner geliebten Frau zu sein. Wenn er am Montagmorgen um sieben Uhr in seiner Firma ankam, schlief er meist eine Stunde auf dem Schreibtisch und war danach wieder „topfit“, wie er sagt.

Seine Schwiegermutter war zunächst skeptisch. Im Rheinland sind viele Gläubige katholisch und Horst war Hugenotte. Doch er konnte sie nachhaltig überzeugen. Später konvertierte er Liesel zuliebe sogar zum katholischen Glauben.

1988 suchte sich Horst eine Position als Lagerleiter und zog bei seiner „Dame“ ein. Das Einzige, was er mitnahm, war ein Tisch. Am Anfang kam ihm Kölsch beziehungsweise Rheinländisch wie eine Fremdsprache vor und er hatte Mühe, sich im Alltag zurechtzufinden. Darüber hinaus musste er erst wieder lernen, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Als er in der neuen Firma anfing, wanderten seine Gedanken den ganzen Tag über zu seiner geliebten Liesel. 

Kompromisse
Ein kleines Problem tauchte beim Zusammenleben aber dann doch auf. „Meine Liesel hat die Jalousien nie runtergezogen. Sie wollte immer bei ganz Hellem schlafen und ich immer überall Rollos und Vorhänge, knallduster. ‘Nö, hat sie gesagt. Dann kann ich ja nicht schlafen!’ Dann hab ich gesagt: ‘Dann einigen wir uns. Wir machen die Jalousien runter und lassen den kleinen Schlitz zwischen den Lamellen dazwischen offen.’ Mit diesem Kompromiss konnten sie dann beide wieder gut schlafen, es sei denn sie ist im Schlaf mit ihren kalten Füßen an seine gekommen, wie er schmunzelnd erzählt. 

Unverhofft
Auch wenn sie nie geheiratet haben, nennt Horst Liesel „meine Frau”. Im Sommer sind sie gern nach Dänemark oder Sylt gefahren oder haben Eis gegessen. Liesels schwerbehinderter Sohn war immer dabei. Für Horst war es selbstverständlich, sich mit um ihn zu kümmern. Als Liesel ihren anderen erwachsenen Sohn in den USA besuchte, betreute er ihn allein in Deutschland und strich er als Überraschung das Treppenhaus neu. Als er sie vom Flughafen abholte, war die Freude überwältigend: „Wir haben uns so gefreut, als ob sie jahrelang weg gewesen wäre. Dabei war sie ja nur 14 Tage weg.“ Er ärgert sich heute noch, dass er einen schwarzen Fleck beim Streichen übersehen hatte, den Liesel dann entdeckte. Sie sagte augenzwinkernd: „Horst, hattest du etwa keine Brille auf?“

Ein Liebeslied, das beide verband, war „Ännchen von Tharau”, von dem Horst damals den ganzen Text auswendig kannte. Das hat er immer gern im Auto gesungen. Er verrät, dass sie sich oft beim Fahren geküsst und Busfahrer und andere Verkehrsteilnehmer gewinkt hätten. „Es war sowas von ergreifend, dieses Gefühl!” Horst, der sich immer Kinder gewünscht hatte, wurde nun zum Bonus-Papa und Bonus-Opa. Er erinnert sich: „Plötzlich hatte ich Kinder, drei Enkel und die haben mich “Opa” genannt. Da kamen mir immer die Tränen.”

Geschenke
In seiner Erinnerung lebt Liesel als liebevolle Frau weiter. Dass sie so viele Dinge auf einmal machen und so detailreich erzählen konnte, faszinierte ihn. „Ich kann auch erzählen, aber sie konnte das noch viel besser!”, lacht er. Darüber hinaus war Liesel Horsts wichtigste Ratgeberin, wenn er mal keinen Ausweg wusste. “Und ich hab auch drauf gehört! Das war meistens auch richtig!” 

Wenn er so ins Reden kommt, kann Horst das Ausmaß seiner großen Liebe kaum in Worte fassen. „Meine Liesel, unbeschreiblich! … Nein, eigentlich kann ich es beschreiben! Ich könnte zehn Bücher darüber schreiben.” Oft hat er sich lange im Voraus überlegt, was ihr Freude machen könnte und ihr dann etwas Kleines geschenkt. „Ich musste mich selber immer sehr zurückhalten, dass ich nicht immer zu viel gekauft habe.” 

Was denn das Wichtigste an der Liebe sei, frage ich. Seine Antwort ist eindeutig: „Das Wichtigste am Ganzen ist Liesel. Sie war eine, die sich so gefreut hat.” Doch nicht nur seelisch, sondern auch körperlich waren sich oft nah, küssten und umarmten sich jeden Tag vor der Arbeit und wenn er nach Hause kam: „Und es dauerte auch einen Augenblick und dann strahlte sie mich an und das Drücken wurde teilweise stärker.” Horst schluckt und schüttelt den Kopf: „Es war so eine Liebe!”

Ob er einen Tipp habe für andere Menschen, wie man die große Liebe bewahren kann, frage ich. Ohne einen glücklichen Zufall gehe es seiner Meinung nach nicht. „Das Wichtigste am Ganzen ist, dass man einen anderen Menschen nicht überfordern darf. Man muss erstmal vorsichtig anfangen”. Reden sei sehr wichtig, aber auch nicht zu viel, um nichts zu zerreden. Er bewahrt Liesel immer in seinem Herzen und das tue ihm auch gut. Die starke Trauer ist weg und er ist dankbar, dass er diese Liebe erleben durfte.

Befreiung
In seinem Leben sind zuvor Dinge passiert, die ihn sehr belastet haben. „Die Liebe hat mich befreit davon!” Bis heute spricht Liesel in Gedanken zu ihm. Er erklärt mir zum Beispiel, dass er selten über etwas Negatives spricht, weil seine Frau ihn oft zurechtwies: „Das ist aber nicht nett”. Das wirkt noch heute nach. Deshalb betont er auch in diesem Gespräch immer wieder das Positive, das ihm widerfahren ist.

Krankheit
Als Liesel Krebs bekam, besuchte er sie zwei Jahre lang jeden Tag in der Uniklinik in Bonn. Während der Fernbeziehung und auch in der Zeit, als sie im Krankenhaus lag, träumte Horst oft, dass er zu ihr fliegt. Er ist überzeugt davon, dass sie gespürt hat, dass er intensiv an sie dachte. 

Nach der Aufzeichnung erzählt er, dass er eine Hypothek von 8000 Mark aufgenommen hatte, um mit seiner krebskranken Liesel zu reisen: nach Hongkong, Singapur und Bali. Am Ende sagt er nachdenklich:

„Ja, ich hab viel erlebt! Aber Liesel ist mein Höhepunkt!“

Horst

Im November 2002 ist Liesel gestorben. Auch wenn es durchaus Frauen gäbe, die eine Beziehung mit ihm wollten, kann sich Horst nicht vorstellen, wieder eine tiefe Verbindung einzugehen. „Sie ist unvergessen und ich werde nie wieder heiraten!”, betont er.

Horst, mit dem ich inzwischen per Du bin, lädt mich nach unserem Gespräch zum Frühstück ein. Er spurtet – ohne Rollator – voraus zum Aufenthaltsraum. Mit meiner schweren Fototasche komme ich da kaum hinterher. Immer wieder winkt er Freunden und Bekannten von Weitem zu. Da kommt einer an unseren Tisch und erzählt stolz, dass er gestern Fahrrad gefahren und dabei nicht umgefallen sei. Horst überlegt auch gleich, ob er sich nicht wie früher aufs Fahrrad schwingen sollte. Zutrauen würde ich es ihm. Danke, Horst, für das Teilen deiner großartigen Liebesgeschichte und deine positive Energie. Möge jeder Mensch ein solches Glück finden und erkennen.