Rituale
Heute treffe ich Lennart.1 Wir haben uns an der U-Bahn-Station Berne verabredet. Er schreibt, dass ich ihn am gelben Shirt erkenne und da hinten… tatsächlich, ein leuchtendes Gelb inmitten der Menschenmassen, die die U-Bahn freigibt. Unter tosendem Baulärm winken wir uns kurz auf der Brücke zu, halten uns gleich wieder die Ohren zu und suchen schnellen Schrittes ein ruhiges Plätzchen zum Unterhalten. Da es im Gutspark heute zu ungemütlich ist, finden wir im „Treff Berne” um die Ecke einen Raum. Lennart hat sich schon im Vorfeld viele Gedanken gemacht über die Themen „Liebe”, „Romantik“ und „Formen des Zusammenlebens” in unserer Gesellschaft, die er teilen möchte.
Normen
Wie andere Teilnehmende auch zählt er zuerst unterschiedliche Arten der Liebe auf: die zwischen Eltern und Kindern, die freundschaftliche oder die romantische Liebe, die in unserer Gesellschaft wohl den höchsten Stellenwert hat und auch unter gesetzlichem Schutz steht. Nur wer romantische Anziehung verspürt, kann an Ritualen wie Verlobung oder Heirat teilhaben und damit verbundene rechtliche Privilegien genießen. So sieht Lennart das jedenfalls. Allgemein findet er, dass Liebe kein politisches Thema sein sollte, mit dem Wahlkampf gemacht wird. „Es ist wichtig, dass es Gesetze gibt. Aber es wäre schön, wenn es kein Eheprivileg im Grundgesetz geben würde und die steuerlichen Vorteile weg wären und wenn es auf eine private Ebene geholt wird.”
Denn: Verspüre jemand diese Anziehung nicht oder lebe nicht in einer festen Beziehung, werde ihm mitunter die Gesundheit und Reife abgesprochen, kritisiert er. Dabei kann man, wie Lennart betont, auch ohne romantische Zweisamkeit zufrieden sein und müsse sich keineswegs als Person unvollständig fühlen. Das heißt nicht, dass er allgemein das Konzept der romantischen Liebe, die für viele Menschen Bestimmung und Lebensziel ist, verteufelt. Im Gegenteil. Lennart findet, dass jeder für sich den richtigen Weg finden muss. Allerdings wünscht er sich einfach, anders leben zu dürfen, ohne immer wieder darauf angesprochen zu werden oder sich defizitär zu fühlen. Er ist sich sicher, dass diese Erfahrung auch andere queere2 Menschen machen.
Lennart ist der Meinung, dass wir in einer stark heteronormativen Gesellschaft leben und die Ehe zwischen Mann und Frau als einzige Basis für die Familie angesehen wird. Romantische Liebe ist seiner Ansicht nach jedoch nicht natürlich gegeben, sondern eine bürgerliche Norm, die sich historisch entwickelt hat, sich auch in der Architektur – den kleinen abgetrennten Wohneinheiten – widerspiegelt und eine „relativ neue und kleine Idee davon ist, wie Menschen zusammenleben können.” Es gebe schließlich auch Konzepte von größeren sozialen Verbänden, wo Menschen, die nicht verpartnert sind, wichtige soziale Funktionen erfüllen. Die haben es hier rechtlich heute jedoch schwer.3 Polyamore Modelle brechen zum Beispiel das starre Kleinfamilienkonzept auf und kämpfen für Anerkennung.
Zudem sieht Lennart das Konzept der Exklusivität in Liebesbeziehungen kritisch, da dieses ein gewisses Besitzdenken fördere, was in Femiziden seinen schlimmsten Ausdruck erreiche.
Seiner Ansicht nach bräuchte es mehr Sichtbarkeit für alternative Lebenskonzepte und Formen des Zusammenlebens und dafür, „dass emotionale Sachen ein bisschen komplexer sind und nicht einfach so eingepfercht werden können.”
Asexualität
Lennart versteht sich als queere Person und wirkt im Verein AktivistA aktiv an der Sichtbarmachung des asexuellen Spektrums (= das A in LGBTQIA*) mit. Asexualität bedeutet, dass sich Menschen nicht sexuell von anderen Menschen angezogen fühlen, aber durchaus eine Libido haben können. Einige wünschen sich eine romantische Beziehung oder sind sogar verheiratet, andere nicht. Daher spricht man von einem Spektrum. Im Gegensatz zur homosexuellen Bewegung gibt es hier noch kaum strukturelle Bildungsarbeit, da „sich die Community erst in den letzten Jahrzehnten zusammengefunden hat und das relativ neu ist, dass da Leute nicht mehr bereit sind, sich pathologisieren zu lassen. Wir sind jetzt historisch an einem Punkt, wo homosexuelle Menschen in den 50er oder 60er Jahren waren”, erklärt Lennart. Auch wenn viele Menschen Sexualität als ein Ausdruck von Liebe verstehen, ist das für ihn persönlich nicht der Fall.
Verletzlichkeit
Von seiner Umgebung wird Lennart meist als Mann gelesen, auch wenn er sich keinem Geschlecht zuordnet. Was ihn stört, ist, dass Männern bestimmte Eigenschaften wie Härte und Dominanz von klein auf zugeschrieben werden und Verletzlichkeit nur in einer romantischen Beziehung gezeigt werden darf. „Mit der Ehe darf sich eine Person öffnen. Da darf man dann vielleicht verletzlicher sein. Das ist dann Intimität und Intimität wird dann mit Sexualität oftmals gleichgesetzt und das ist dann auch ein Druck, so was zu finden und gleichzeitig auch eine Verödung von sozialen Beziehungen und von Emotionalität”.
Die Queer-Community erlebt er als herzlich. Er mag es auch, wenn jemand „Darling” sagt. „Ich bin sehr fem, kitschig, verletzlich. Queere Menschen sind häufiger respektvoller im Umgang, weil Selbstverständlichkeiten fehlen.” Außerdem betont er, dass nicht immer alles so sexualisiert sei, wie sich das viele vorstellen. Er schätzt vielmehr die Offenheit, die durch das Wissen entsteht, dass alle sich emanzipieren mussten.
Selbstliebe
Lennart litt anfangs unter der Idee, nicht für das klassische Beziehungsmodell geeignet zu sein. Um das Glück auf eigene Weise zu finden, musste er sich Schritt für Schritt frei machen von gesellschaftlichen Normen für Romantik, Sexualität und Geschlecht.
Doch in bestimmten Situationen wird deutlich, wie schwierig es ist, keine Zweier-Beziehung zu haben. Er erzählt: „Wie ist das, wenn du irgendwo was mieten musst oder kaufen kannst? Wie ist es bei Feiern mit Begleitung, ohne Begleitung? Wie wird man wahrgenommen in einem gewissen Alter ohne Begleitung? Welche Vermutungen werden über einen angestellt? Das sehen ja Leute teilweise als Einladung zu Spekulation. Das trägt viel dazu bei, dass Leute sich darüber definieren.” Auf mich wirkt Lennart sehr sympathisch und reflektiert und alles andere als verbittert. Ihm selbst ist es auch wichtig, nicht zu jammern: „Es ist die Frage, ob man bereit ist, sich beurteilen zu lassen oder sich selbst zu beurteilen oder eben nicht. Ganz plump gesagt, ’ne unverheiratete Person Ende 30, Anfang 40 könnte sich auch denken ‘Oh Gott, was ist falsch gelaufen?’“ Sich ungenügend fühlen, nur weil sein Leben nicht in bestimmten Mustern verlaufen ist, will er auf gar keinen Fall.
Beyond
Lennart hat zwar keine klassische romantische Vorstellung von Liebe für sich persönlich; deswegen gar nicht zu lieben, ist für ihn keine Option. „Ich glaub nicht, dass Liebe automatisch eine Beziehungsform bedeuten muss.” Er erklärt, dass er eine sehr niedrigschwellige Vorstellung von Liebe hat. Ich bejahe, dass es diese Person gibt, dass sie sich ausdrückt, egal wie nah oder fern ich ihr stehe.” Dass Menschen einander gleichgültig werden, je weiter sie voneinander entfernt sind, sieht er sogar kritisch und verweist auf die zahllosen ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer.
Christliche Nächstenliebe als Konzept hat in seiner Kindheit zwar kennengelernt, aber das christliche Menschenbild, bei dem Sünde und Schuld des einzelnen Menschen im Vordergrund stehen, findet er eher hinderlich für einen liebevollen Umgang miteinander.
„Wie drückt sich die Liebe denn konkret aus?“, hake ich nochmal nach, weil ich es noch nicht so richtig verstanden habe. Im Grunde funktioniere für ihn jegliche menschliche Beziehung als Gefühl, eine Art grundlegende Sympathie, Empathie oder Mitgefühl. „Vielleicht drückt es sich auch einfach darin aus, nicht den Impuls zu haben, über andere zu urteilen oder andere einfach bestimmte Dinge ausdrücken zu lassen und nicht immer das entgegenzusetzen, was man selbst für richtig hält.”
Immer dann, wenn andere aufmerksam waren, nachfragten oder ihn ernst nahmen, fühlte er sich besonders geliebt. „Es ist generell so ein Gesehen-Werden oder ein Sehen, in der Wahrnehmung einer Facette oder eines Teils der eigenen Persönlichkeit, der einem dann vielleicht ein bisschen in Erinnerung gerufen wird oder auf den man hingewiesen wird. Einfach dieses Gesehen-Werden von einer Person und das kann sich dann unterschiedlich ausdrücken, in kleinen Gesten, Einladungen oder Zeit oder vielleicht sogar auch in Kritik.“
Intimität
Auch als asexuelle Person lässt sich Intimität erfahren, zum Beispiel durch körperliche Gesten, die nichts mit Küssen oder Ähnlichem zu tun haben. Außerdem drückt sie sich auch durch die Bereitschaft aus, Erlebnisse oder Geheimnisse zu teilen, sich für bestimmte Dinge gemeinsam zu begeistern und eine gemeinsame Sprache zu entwickeln oder in einer bestimmten Art beieinander sein zu können, nonverbal zu kommunizieren oder Musik zu spielen.
Intimität verbindet Lennart mit „einer grundsätzlichen Offenheit, Entspanntheit und einer gewissen Bereitschaft zur Verletzlichkeit.” Er findet, „es gibt so viele Arten von Intimität und Liebe, wie es Leute gibt und mögliche Konstellationen dazwischen.”
Lebensbejahung
„Es stimmt schon, dass es für eine Person schwierig ist, einfach nur isoliert zu existieren oder allein zu leben und dass es nix ist, was Menschen gut tut.” Lennart ist Musiker in einer Band und spielt Gitarre, Bass, Schlagzeug, Synthesizer und Percussion. Die Stilrichtungen sind Punk, Psychedelic beziehungsweise Experimental oder Ambient. Einer seiner Songs greift auch das Thema „Liebe“ auf. Er heißt „Love ain’t scarce“.
Ob er überhaupt romantische Filme oder Musik mag, frage ich. Auf Kitsch oder vielmehr Camp, die „liebevollere, reflektiertere Art von Kitsch”, steht er trotz allem, wie er lachend erklärt. Musikalische Beispiele wären Sylvesters „You Make Me Feel, mighty Real”. Lennart ergänzt: „Es gibt bestimmte menschliche Erfahrungen und Emotionen, die sich dann in einer gewissen Sprache, die auch eine romantische sein kann, ausdrückt, in Geschichten oder Musik, eben weil es eine gewisse Positivität, Offenheit und Lebensbejahung ausstrahlt. Was ich nicht abkann, sind selbstmitleidige Balladen – außer ‘All by myself’ ”
Ritual
Beim Queersein geht es für Lennart um Selbstentdeckung und emanzipatorisch darum, Zuneigung zu zeigen. Innerhalb der Community werden gewissermaßen eigene Rituale geschaffen, die die Selbstliebe stärken sowie den Mut, sich und auch seinen Körper zu zeigen. Karaoke-Partys wie das Queereeoké in Hamburg und Berlin stellen für Lennart eine „eine ritualisierte Form von Liebe“ dar. Was ihm daran gefällt? „Die Idee dahinter ist ein Support-Mechanismus. Das bedeutet, dass eine Person, die auf die Bühne geht, um was zu singen, dann wird sie beklatscht und bejubelt und angefeuert und wenn die Person etwas schüchtern dabei ist, dann wird sie noch mehr beklatscht und bejubelt und angefeuert und wenn die Person singt, dann wird der Text mitgesungen und wenn die Person den Text nicht weiß, dann wird noch lauter mitgesungen. Es ist wirklich so ein Kreislauf von – happyesk gesagt – Energie und Liebe, von so einer bedingungslosen Liebe.”
Er betont am Ende unseres Gesprächs, dass bei queeren Partys alle wissen, dass die Anwesenden diese Art von Liebe durch bloßes Wahrnehmen und Akzeptanz wirklich brauchen, weil sie das sonst in der Gesellschaft normalerweise nicht bekommen oder weil sie ihnen von der biologischen Familie oder von religiösen Gemeinschaften vorenthalten wurde oder wird.
Da es für Lennart ein Ritual gegenseitiger Liebe ist, entwickeln wir die Foto-Idee mit der Queereeokée-Ankündigung. Ein spontanes Bild, das ihm außerdem bei „Liebe” in den Sinn kommt, ist etwas Abstraktes, das Wärme ausstrahlt. Nachdem wir noch ein paar Schokokekse verdrückt haben und der Baulärm draußen endlich verstummt ist, verabschieden wir uns auf der Berner Brücke. Danke, Lennart, für deine Offenheit und für das Teilen deiner Gedanken zum Thema Romantik, Intimität und Queerness sowie für den Einblick in ein besonderes Ritual.
- Lennart ist zwar ein männlicher Vorname. Er selbst ordnet sich jedoch keinem Geschlecht zu, sondern bezeichnet sich als non-binär. Aufgrund der Lesbarkeit verwende ich im Text jedoch das Pronomen “er”. ↩︎
- Ursprünglich stammt „queer“ aus dem Englischen und bedeutet so viel wie „komisch“. Der einst als Abwertung von homosexuellen und trans Menschen verwendete Begriff wurde in den 90er Jahren von der LGBTQIA*-Community emanzipatorisch verwendet und steht heute als Sammelbezeichnung für Menschen, die sich nicht der cis-heteronormativen Gesellschaft zugehörig fühlen. LGBTQIA* steht als Abkürzung für folgende Begriffe: L = lesbisch, G = gay (das englische Wort für schwul), B = bisexuell, T = trans, Q = queer, I = intergeschlechtlich, A = asexuell und aromantisch. ↩︎
- Die Verantwortungsgemeinschaft soll 2025 in Deutschland verankert werden, um Beziehungen außerhalb der Ehe rechtlich zu stärken. ↩︎
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