Wechselwirkung
Da, wo die vielen kalten Straßennamen von Meiendorf zu lesen sind, wächst ganz viel Wärme und Herzlichkeit, wie ich gleich erfahre, denn heute bin ich bei Matthias und Sonja eingeladen. Die beiden wohnen Tür an Tür und haben den Mut, ihre Gedanken zum Thema „Liebe” zu teilen. Sonja, eine energiegeladene Frau mit wilden Locken und Sommersprossen, bittet mich herein. Im Wohnzimmer leuchtet das rote Sofa mit dem gelben Sessel um die Wette. Ein Heißgetränk in handgewerkelten Tassen – aus Dänemark – wie ich später erfahre, dampft schon auf dem Holztisch. Ein Ort zum Wohlfühlen! Matthias, ihr Verlobter, der mindestens einen Kopf größer ist, begrüßt mich mit einer warmen Bass-Stimme und setzt sich dazu. Die beiden, die stark im Stadtteil Meiendorf verwurzelt sind, freuen sich, am Projekt teilzunehmen, um mehr good vibes in die Welt zu bringen.
Was sie spontan mit dem Begriff „Liebe” verbinden? Sonja muss nicht lange überlegen und macht unmittelbar eine Umarmungsgeste: „Geborgen und warm. Das ist für mich Liebe!” Matthias, ein Künstler mit vielen Talenten, der schon auf Bühnen in ganz Deutschland stand, hat sich viele Jahre mit der klassischen Liebesliteratur auseinandergesetzt.1 Er findet: „Mit “Liebe” betritt man einen Raum, den man nicht weiter hinterfragt, wo man einen Teil vielleicht sogar bereit ist, von sich aufzugeben, etwas anderen zu geben und zu empfangen.” Sonja ist sichtlich bewegt und sagt zu ihm gewandt: „Jetzt entsteht bei mir die Wärme!” Für Sonja und Matthias ist Liebe sowohl körperlich, seelisch als auch geistig erfahrbar. All diese Dimensionen gehören für die beiden untrennbar zusammen. „Liebe, wenn man das so sagen kann, durchdringt alles”, findet Matthias.
Sowohl Matthias als auch Sonja haben ältere Kinder aus erster Ehe, Matthias sogar schon Enkelkinder, die in ihm starke Gefühle wecken. „Die selbstloseste Liebe ist vielleicht sogar die zu den Kindern oder zur Familie, weil die so tief verankert ist, wahrscheinlich auch evolutionär. Das hat die Natur schlau gemacht”, schmunzelt er und sagt zärtlich:
Wie eine Trennwand zwei Menschen verbindet
So aufmerksam und zugewandt, wie die beiden miteinander umgehen, ist es kaum zu glauben, dass sie schon sechs Jahre zusammen sind und sich gerade im “berühmten verflixten siebten Jahr” befinden. Sonja lebt mit ihren beiden Kindern in der einen Wohnung, Matthias daneben in der anderen. Dort hat er seinen Bereich zum Malen und Projekte aushecken eingerichtet sowie seinen Rückzugsraum.
Auf die Frage, wie sich kennengelernt haben, müssen beide lachen und fragen, wie viel Zeit ich denn hätte. Immer wieder lassen sie sich gegenseitig den Vortritt beim Erzählen. Nun ist Sonja an der Reihe: „Ich wohnte hier mit meiner Familie schon länger. Meine Tochter ist jetzt 14. Ich bin hier eingezogen, da war sie ein halbes Jahr alt. Mit dem Sohn noch dabei und dem Mann, den es damals noch gab. Der ist dann irgendwann ausgezogen und Matthias ist nebenan eingezogen; und zum Glück ist er da eingezogen!“
Eines Nachmittags stand Sonja auf dem Balkon und sah durch die Trennwand schemenhaft, dass Matthias auf der anderen Seite auf seinem Balkon saß. Irgendetwas habe sie plötzlich „gepackt“, sodass sie sich spontan über den Balkon beugte und ihn fragte, ob er nicht ein Bierchen mit ihr trinken wolle. Dass diese Frage sich als schicksalhaft herausstellen würde, konnte sie damals noch nicht ahnen. Aus einem angenehmen Gespräch wurden viele.
Zugehörigkeit und Authentizität
Sowohl Matthias als auch Sonja hatten eine lange Beziehung hinter sich und nie damit gerechnet, noch einmal eine so tiefe Verbindung einzugehen. Doch es sollte einfach so sein. „Ich glaube, dass wir uns genau zu so einem Zeitpunkt getroffen haben, wo jeder sehr gut mit sich war”, erinnert sich Matthias. Was ihre Liebe so besonders macht?
Wahnsinn! Das ist jetzt wirklich ein Moment, wo ich Gänsehaut beim Interview bekomme, wenn ich sehe, wie sich die beiden dabei anschauen.
Sonja fährt fort: „Das hab ich überhaupt nicht erwartet, dass der jemals noch mal so um die Ecke kommt und ich habe immer das Gefühl gehabt, ich muss mich nie verbiegen, muss mich nie anstrengen oder irgendwas darstellen, was ich nicht bin. Ich konnte immer so sein, wie ich bin und da findet mich einer total toll.” Sie fährt fort: „Es ist so mühelos gewesen. Das kannte ich vorher einfach gar nicht.” Inzwischen sind die beiden Familien zu einer großen zusammengewachsen.
Kommunikation und Verletzlichkeit
Matthias spricht immer wieder vom Bild des „gemeinsam Räume aufmachen”, wo Dinge entdeckt und geteilt werden, etwas, das die beiden sehr stark verbindet. Sonja schätzt außerdem an ihrer Beziehung, dass sie so viel miteinander reden. Sie ist sich sicher, „dass es sehr hilfreich war, dass wir keine Jungspunde waren, die sich getroffen haben. Wir wussten auf jeden Fall ganz genau, was wir nicht wollen.” Dadurch konnte etwas Wunderbares entstehen.
An seinem künstlerischen Schaffensprozess hat Matthias lange Zeit niemanden teilhaben lassen. Er wollte sich früher immer erst sicher damit sein, bevor er es mit jemandem teilte und dann kam Sonja. Bei ihr kann er auch Unsicherheiten thematisieren und „sie hat manchmal direkt Anteil an Prozessen”.
Nächstenliebe und Selbstliebe
Danach sprechen wir über die Spendenaktion, die Matthias gemeinsam mit dem BiM für die ukrainische Klasse am Gymnasium Meiendorf auf die Beine gestellt hat. „Dann kam der Ukraine-Krieg und ich dachte, ich kann jetzt nicht einfach nix tun und nur erschüttert sein”, fand Matthias damals. Es gab keinerlei Ausstattung, keine Bücher und kein Geld für Ausflüge.
„Nächstenliebe kann man sich dann am meisten leisten, wenn es einen selbst nichts kostet und Liebe kostet immer irgendwas! Und dann ist die Frage: ‘Ist man bereit, etwas zu geben?’ Wenn ich nicht geben kann, bin ich gar nicht in der Lage zu empfangen. Und Liebe fängt ja letzten Endes, wenn man das ganz konsequent zu Ende denkt, bei sich selbst an. Bin ich nicht in der Lage, mich selbst zu lieben, wird’s schwierig, jemand anderem das zu schenken.” Dabei geht es Matthias um die Selbstliebe im Sinne von Selbstzufriedenheit jenseits von Eitelkeiten.
Momente
Für Matthias gibt es viele Momente der Liebe. Da ist nicht nur die zärtliche Berührung zwischen zwei Menschen, sondern Liebe empfindet er auch beim gemeinsamen Am-Strand-Sitzen und Aufs-Meer-Schauen: „Dass man sich anguckt und weiß, dass jemand da ist und dass man das zusammen erleben darf – da fühle ich mich nicht nur von Sonja geliebt, sondern von dem allen Drumherum, wo man dann manchmal fast weinen möchte, weil’s so schön ist.”
Für Sonja ist es ein starker Moment der Liebe, wenn Matthias sie anschaut. Das setzen wir auch im anschließenden kleinen Fotoshooting um, bei dem die beiden viel Spaß haben. Ich habe meine liebe Not, ein scharfes Foto zu schießen, weil durchgehend so viel fröhliches Lachen erklingt und Sonjas Locken nur so herumwirbeln. Von Nachrichten halten sich die beiden momentan bewusst fern und unternehmen lieber etwas draußen. Besonders im Sommer gehen sie gern „butschern”. Was das bedeutet? „Manchmal setzen wir uns einfach ins Auto oder aufs Fahrrad und gucken mal, was uns des Weges kommt. Da haben wir schon sehr schöne Sachen erlebt und gesehen”, erinnert sich Sonja. Einen Song von Randy Crawford und Joe Sample mögen die beiden besonders gern. „Das ist unser Song!”, strahlt Sonja. “Wir sitzen hier so gerne, der Fernseher ist aus und wir haben ein Glas Wein in der Hand.”
Heiraten? Auf keinen Fall!
Nächstes Jahr wollen die beiden sich das Ja-Wort geben. „Warum habt ihr euch entschieden, zu heiraten?”, frage ich. Beide müssen unweigerlich lachen und erzählen synchron, dass sie das ursprünglich auf keinen Fall wollten. Sie waren ja beide schon einmal verheiratet und hatten überhaupt nicht daran gedacht!
Doch eines Tages saßen sie wieder auf dem roten Sofa, auf dem so viele schöne Momente geteilt worden waren und stimmten sich im Prinzip gegenseitig zu, dass sie gern heiraten würden. Sonja erklärt: „Wir haben beide nicht den Grund, sondern wir haben einfach Lust darauf und es fühlt sich richtig an. Wir glauben ganz fest daran, dass Sachen dann passieren, weil sie passieren sollen.”
Matthias ist seit seiner Jugend stark mit der evangelischen Kirche verbunden. Doch lange fanden die beiden keine Gemeinde und keinen Pfarrer, der sie wirklich begeistern konnte. Aber dann kam der Zufall ihnen zu Hilfe. Sie fanden endlich einen „coolen Pfarrer“, der selbst auch Musiker ist und eine Punkrock-/Ska-Band leitet. Mehr wird aber an dieser Stelle nicht über die geplante Hochzeit verraten. Auch danach möchten sie das Leben in den beiden Wohnungen nebeneinander beibehalten, denn so behält jeder seinen Freiraum.
Zeichen und Farben
Die Liebe nach außen sichtbar zu machen durch eine Freudenfeier mit Familie und Freunden, ist ihnen wichtig, gerade in schweren Zeiten. Matthias findet es schade, dass wir heute im Informationszeitalter noch immer nicht grundlegende Dinge gelernt zu haben scheinen. In der heutigen Gesellschaft verhinderten Manipulation, Aggression, Profilneurosen und das ganze Spektrum der menschlichen Abgründe, dass Liebe entstehen könne. „Überall wo Macht und Gier herrschen, ist Liebe auf dem Rückzug. Umso wichtiger ist es, um das nochmal zu verdeutlichen, dass uns klar geworden ist, warum heiraten wir eigentlich? Natürlich auch, weil das ein Zeichen ist, von uns beiden, dass wir das nach außen hin zeigen können. Und, das Verrückte ist ja, es verändert tatsächlich was.”
Acrylgemälde hängen über dem Sofa und dem Klavier: darauf ein sich umarmendes Paar, über dem Klavier ein Triptychon mit einer Mutter in der Mitte und den beiden Kindern links und rechts. Sonja erzählt, wie sie den Raum um die Bilder herum neu eingerichtet hat. Matthias hatte ihr zum ersten gemeinsamen Weihnachtsfest drei Bilder geschenkt, die sie inspiriert haben, eben dieses wunderschöne rote Sofa zu kaufen.
Ich zeige auf das Bild von „Glaube, Liebe, Hoffnung”, das im Wohnzimmer steht, ein bekannter christlicher Spruch, der für Matthias eine besondere Bedeutung hat und er sagt nickend: „Wenn die Hoffnung auf die Liebe verlorengeht, ist es ganz doof.”
Nach diesem persönlichen Einblick in eine wundervolle Verbundenheit zweier Menschen verabschiede ich mich. Ich hätte gern noch länger mit den beiden geplaudert, aber zu Hause warten meine Kinder. Auf dem Fahrrad denke ich über das Butschern, das Bunte im Leben und das Liebe-Geben nach. Wie so oft stelle ich mir wieder einmal die Frage, wie die Welt wohl aussehen würde, wenn mehr Menschen so zufrieden mit sich, ihrer Beziehung und dem Leben wären wie Matthias und Sonja, die so viel zu geben haben.
- „Der Liebende” ist ein anspruchsvolles Lyrik-Abendprogramm, bei dem Matthias das Bühnenprogramm selbst entworfen und gemalt hat. Gedichte aus 600 Jahren sind dort zu hören. ↩︎
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