Ewigkeit

Ewigkeit

An einem kühlen Septembermorgen treffe ich Sanchez im B!M Kulturzentrum am Spitzbergenweg. Sein Ruf als barmherziger Samariter von Meiendorf eilt ihm voraus und ich bin sehr gespannt, ihn und seine Sicht auf die Liebe kennenzulernen. Da kommt auch schon ein kleiner, wuscheliger Hund mit schwarz-weißem Fell um die Ecke gewetzt. Sanchez spurtet hinterher, nicht ohne einem Bekannten noch schnell zwei Zigaretten zuzustecken, bevor wir reingehen. 

Größer
Mit einem dampfenden Yogi-Tee vor der Nase sprechen wir über das kleine große Thema „Liebe”. Was er persönlich mit dem Wort verbindet? Ganz klar. Nichts Geringeres als die ganze Welt. Spontan denkt er an das Gefühl, das ihn mit der Welt, der Natur, den Tieren und den Menschen verbindet. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, ob das nette Menschen sind oder ob sie jung, alt oder behindert sind. Für alle kann er Liebe empfinden. Wie sich das ausdrückt, erklärt er später noch genauer. „Ja, es gibt auch die Liebe zwischen Mann und Frau. Aber Liebe ist größer”, er deutet eine weltumspannende Geste an. Ob er ein Bild im Kopf hat, wenn er das Wort „Liebe” hört, frage ich. Auch da muss er nicht lange überlegen: „Den Weltfrieden, wenn Kriege und Terror beendet sind und alle Länder glücklich sind. Dann ich bin glücklich.” 

Sanchez, dessen Name mich zuerst an Südamerika denken lässt, erzählt, dass er seit 16 Jahren in Hamburg wohnt. Ursprünglich kommt er aus der Türkei, wo er lange als Barkeeper und in der Gastronomie gearbeitet und mit seiner deutschen Frau gelebt hat. Doch dort haben die beiden damals keine Zukunft gesehen. 

Die zunehmende Präsenz religiöser Sekten und die Religiosität im Alltag sowie die Einschränkung der Demokratie machten ihnen Angst. Deshalb sind sie 2007 nach Deutschland gezogen. Auch heute hält er es kaum länger als zwei Wochen in der Türkei aus, dann will er wieder nach Hause in seine Wahlheimat Hamburg. Beim Thema „Lovesong” fällt ihm sofort „Simply the best” von Tina Turner ein. Auch Pink Floyd und Deep Purple hört er gern – „rockige Sachen eben”, grinst er. 

Selbstlos
Ansteckend seine positive Grundhaltung, die er mit seiner warmen, sanften Stimme glaubhaft vermittelt: „Ich bin immer glücklich. Leute glücklich machen, Tiere glücklich machen, dann bin ich glücklich.” 
Ob Liebe allgemein ein wichtiges Thema ist, will ich von ihm wissen. Die Antwort ist klar:

„Ich liebe, ich helfe.”

Sanchez

Liebe drückt sich für Sanchez also in der Hilfe für andere Menschen aus. Er erzählt, dass er zum Beispiel im Bus häufig die Rampe ausklappt, wenn es nötig ist. Mit Menschen zu reden ist ihm ebenfalls wichtig. Eigentlich war das bei ihm schon immer so, erinnert er sich. „Besonders wenn Menschen Hilfe brauchen, habe ich das schnell gemerkt. Diese Dame oder dieser Herr oder dieses Kind braucht meine Hilfe. Ich geh mal dahin, meine positive Energie geben, bisschen unterhalten, glücklich machen.” Sanchez geht jeden Tag zu einer älteren Dame und hilft ihr mit den Einkäufen und im Haushalt, begleitet sie zum Friseur oder zur Bank. Wenn er sie mal einen Tag nicht besucht, dann fragt sie gleich: „Ist etwas passiert?” Er lacht. 

Doch auch seine Energie ist nicht unbegrenzt, besonders wenn er negative Dinge erlebt, sich mit Nachrichten beschäftigt oder mit „Energieräubern” gesprochen hat, also mit Menschen, die schlechte Laune verbreiten. Was ihm dann hilft, zu seiner Grundhaltung zurückzukehren? Ganz einfach. „Meine Energiequelle ist hier!”, betont er und zeigt auf seinen Hund Fritzi, der um seine Beine scharwenzelt und auf Leckerlis hofft. „Ne, Baby?”, sagt er zärtlich und streichelt ihn. 

Energiequelle
Schon zwölf Jahre lebt Fritzi, ein Malteser-Shi-tzu-Mischling, bei ihm. Als Sanchez ihn bekommen hat, war er gerade acht Wochen alt. Den Namen hat damals eine Freundin ausgesucht. Als er sie fragte, was Fritzi bedeutet, antwortete sie: „Frech und lustig!” Das passt seiner Meinung nach noch immer sehr gut. „Jetzt ist Fritzi überall bekannt. Alle lieben Fritzi!”, strahlt er und streichelt dem Hund wieder über den Kopf.  

Schon als Kind hatte er Tiere gern. Straßenhunde hat er zum Beispiel aufgelesen und in den Garten seiner Eltern gebracht. Nur vor Wespen hatte er damals Angst. Jetzt hat er auch mit ihnen Frieden geschlossen. Fritzi spürt, wenn andere Menschen in Bus oder Bahn traurig sind und bei Sanchez spürt er natürlich auch, wenn er mal traurig und down ist. Um ihn aufzuheitern, vollführt er dann eine Art „Kasperletheater”, als ob er sagen wolle: „Papa, alles okay! Komm, kein Problem. Papa wieder heile, ne?” wie Sanchez mir erklärt. Das letzte Mal, als er in den Urlaub gefahren ist, hat Fritzi drei Tage am Stück nichts gefressen und fast vorwurfsvoll reagiert bei seiner Rückkehr, als ob er ihn fragen wollte: „Wo bist du gewesen? Warum hast du mich allein gelassen?” 

Rituale
Die meisten Menschen, die zusammen leben, haben bestimmte Rituale, ob das bei Sanchez und Fritzi auch so ist, interessiert mich. Wie aus der Pistole geschossen kommt ein „Ja, ja! Rituale!” Er schmunzelt und erzählt von der morgendlichen Bauchmassage bei Fritzi. Zudem vergeht kein Tag, an dem es keine Küsschen gibt. „100-mal küssen jeden Tag. Küssen, küssen, küssen. Ich 100-mal, er 100-mal küssen.” 

Fritzi hat zwar einen eigenen Korb, aber er schläft lieber bei Sanchez im Bett. Vor dem Schlafengehen wird noch ein bisschen gekuschelt und genüsslich gegähnt. Sanchez darf nicht zu früh aufhören oder Pause machen. Manchmal schläft Fritzi auf den Füßen ein, manchmal auf den Beinen oder im Arm. Sie stehen immer beide zur selben Zeit auf und gehen zur selben Zeit ins Bett.  

Ob er sich an einen Moment erinnern kann, wo er sich besonders geliebt gefühlt hat, frage ich ihn. Eigentlich fühlt er sich immer glücklich, es sei denn etwas Negatives passiert. „Dann ist die Energie null”. Fritzi oder positiv eingestellte Menschen helfen ihm dann, wieder auf den guten Weg zu kommen. 

Beschützen
Sanchez lebt im Moment allein mit Fritzi, aber einsam fühlt er sich nicht. Das liegt nicht zuletzt an der Rolle, die er in seiner Familie innehat. Mit seinen Geschwistern versteht er sich sehr gut. Er hat ältere und jüngere Schwestern und Brüder, die alle in der Türkei leben. Als Kind hat er seine jüngeren Schwestern als „meine Töchter” bezeichnet und sie nur zu gern verwöhnt. Er fühlt sich sehr von ihnen geliebt und erzählt begeistert: „Ich bin immer dabei. Gute Zeiten, schlechte Zeiten”. Eine seiner Schwestern ist leider an Krebs gestorben. Oft setzt sich Sanchez ins Flugzeug, um bei jedem wichtigen Ereignis dabei zu sein, ganz gleich, ob es sich um den Schul- oder Uniabschluss, eine Verlobung oder Hochzeit handelt. 

Sie telefonieren viel und er nimmt großen Anteil am Leben seiner Geschwister, Nichten und Neffen. Seine Familie, die verstreut lebt, bringt er durch seinen Besuch noch mehr zusammen. Sanchez sagt von sich selbst: „Ja! Ich bin immer wie ein Schutz.” und seine Schwester zu ihm: „Bruder, ohne dich sind wir jeder in einer anderen Ecke. Du kommst und bringst uns alle zusammen.” Seine Eltern sind bereits verstorben und in gewisser Weise gilt er als zweiter Papa innerhalb der Familie. Deshalb zeigt er sich gern von der beschützenden Seite, was er immer wieder mit der weltumspannenden Geste seiner Arme verdeutlicht. Am liebsten mag er die Picknicks im Freien mit der Familie. Auch wenn er selbst keine Kinder hat, sagt er: „Meine Kinder sind alle da. Fast 10 Kinder. Alle will ich beschützen. Alles meine Babys. Hier auch! Arme Kinder, behinderte Kinder. Alles meins.”

Fotoshooting
Da sein Hund Fritzi wie ein Kind für ihn ist, machen wir ein Shooting mit ihm zusammen auf der Wiese. Sanchez nimmt ihn auf den Arm, kuschelt mit ihm, füttert ihn und erklärt, dass Fritzi eigen ist bei den Leckerlis – ich habe leider auch die falschen gekauft –, krault ihm den Bauch und Fritzi gibt Küsschen. Das Küsschen-Geben stellt sich allerdings als fotografische Herausforderung heraus.

Die Einzigartigkeit des Augenblicks lieben
Als wir uns schon verabschiedet haben, zeigt Sanchez plötzlich Richtung Himmel und möchte noch etwas teilen, was ihm wichtig ist. Er spricht von der Kostbarkeit des Augenblicks. „Man muss ihn genießen. Das ist auch Liebe. Ich möchte Sonne genießen und im Winter Schnee genießen.” Die Farben des Indian Summer oder die Einzigartigkeit der Wolkenformationen liebt er besonders. 

Danke, Sanchez, für deine Zeit und die positive Energie, die du anderen Menschen schenkst. Mit einem guten Gefühl schwinge ich mich aufs Fahrrad und fliege nach Hause.