Gegenwart
Heute treffe ich Premal, eine Frau, die drei Männer in ihrem Herzen hat und davon erzählen möchte. Wir haben uns am Bahnhof Dammtor verabredet. Vor dem Ausgang wartet, wie bestellt, ein Briefkasten, der mit dem Aufkleber „Love letters only” versehen ist. Das lässt mich schmunzeln. Premal breitet zu Begrüßung gleich ihre Arme aus und schenkt mir eine Umarmung. Spontan ist Karsten mit dabei, einer von Premals festen Partnern, den sie seit acht Wochen nicht gesehen hat. Ein überraschender Regenguss treibt uns unter den leuchtend roten Sonnenschirm am Eck-Kiosk. Bei einem Becher Kaffee beginnen sie zu erzählen.
„Für mich erscheint Liebe als nichts Kognitives, sondern es ist da als Gefühl.” Manchmal empfindet Premal, deren Name übrigens „die Liebende” bedeutet, das so stark, als würde die Liebe aus ihren Brüsten strahlen. Sie vergleicht es mit dem Herauströpfeln von Muttermilch und macht eine große, ausladende Geste mit den Händen von den Brüsten weg. Für Karsten dagegen steht die emotionale Verbundenheit im Vordergrund. „Eine echte Liebe kann nur da sein, wenn man über vieles reden kann, wenn man offen zueinander sein kann und wenn man sich dem anderen auch zeigt. Es ist so diese Sehnsucht, verbaler oder auch persönlicher Art, immer wieder in den Kontakt mit der Person gehen zu wollen und das auch irgendwie zu brauchen, um sich wohlzufühlen und glücklich zu sein”. Vertrauen gehört für beide zur Liebe dazu.
Für Premal ist Liebe durchaus körperlich erfahrbar. Das Gefühl der Verliebtheit vergleicht sie mit einer Schiffsschaukel: „Wenn du ganz oben bist und dieser Moment, wo sie wieder fällt.” Den Ausdruck “trunken vor Liebe” findet sie ebenfalls schön. Karsten wiederum hat nichts gegen das beliebte Bild der Schmetterlinge im Bauch und der „wohligen Unruhe im Körper”. Untrennbar verbunden ist das Verliebtsein für ihn mit dem Gefühl, intensiv leben zu wollen. Premal bestätigt das und strahlt ihn an. „Ja leben!” Seit über einem Jahr sind die beiden ein Paar. Doch Karsten ist nicht der einzige Mann in Premals Herzen.
Polyamorie
Davon jedenfalls ist Premal überzeugt. Sie liebt drei Männer und hat zu jedem eine besondere Beziehung. Dieses Beziehungsmodell wird als Polyamorie bezeichnet, das bedeutet „mehr liebend” und hat nichts mit heimlichen Seitensprüngen, Fremdgehen oder offener Beziehung zu tun, weil alle Partner voneinander wissen. Im Vordergrund steht nicht der Sex, sondern eine emotionale Verbundenheit mit mehreren Menschen. Transparenz und Vertrauen sowie der reflektierte Umgang mit Eifersucht sind bei diesem Beziehungsmodell grundlegend.
Für die lebensfrohe Frau bedeutet polyamor zu leben, dass sie von jeder Person etwas Schönes bekommt. „Ich hab das Gefühl, ich verändere mich mit jedem meiner Partner, ich probiere aus durch die Männer. Karsten, der selbst auch eine weitere Partnerin hat, bestätigt das: „Es sind Impulse, dadurch dass man sich öffnet.” Im Gegensatz zu anderen polyamoren Modellen lebt Premal derzeit allein und trifft sich einzeln mit ihren drei Partnern. Doch sie gibt durchaus zu: „Manchmal bin ich dann allein und fühl’ mich auch einsam.”
Was die Verbindung zu Premal ausmacht, ist für Karsten zum Beispiel der „Moment, um die Akkus einfach so richtig aufzuladen, das was im Alltag einfach so richtig liegengeblieben ist, wirklich wegzuschütteln, einmal so richtig wieder Lebensenergie aufzusaugen.” Premal bestätigt das und ergänzt, dass sie dabei allerdings nicht das Bedürfnis nach Exklusivität habe. Im Gegenteil. Sie lässt ihre Männer, die eben auch andere Beziehungen haben, bewusst frei, weil sie selbst auch gern frei sein möchte. Dass es aufgrund dieser L(i)ebensweise sozialen Druck auf ihre Männer gebe, findet sie schade.
Sexuelle Selbstbestimmung
Fast 30 Jahre lebte Premal monogam. Sie hat vier Kinder großgezogen und ließ sich dann scheiden. Trotz der Scheidung pflegte sie ihren Mann bis zum Tod. Heute beschreibt sie es so: „Nachdem ich getrennt war, hab’ ich angefangen festzustellen: ‘Ich musste aus der Ehe entjungfert werden.’ Das war mir ganz wichtig. Ich musste nach fast 30 Jahren überhaupt erstmal ein Gefühl dafür entwickeln, wie ist, es einem anderen Mann zu begegnen. Das war eigentlich ein No-Go. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, die Haut oder die Haare eines Anderen zu berühren.”
Sie erinnert sich jedoch, dass sie das „Polygen” vielleicht schon immer in sich trug. Vor ihrer Ehe war sie mit mehreren Männern gleichzeitig befreundet, die sich untereinander gut verstanden haben. Damals dachte sie, sich entscheiden zu müssen, weil es gesellschaftlich so erwartet wird. Das bedauert Premal heute und fragt sich, ob sie nicht eine längere Zeit eine glückliche polyamore Beziehung hätte führen können. Im Moment genießt sie ihr Leben und betont:
Liebevoll erzählt sie von den drei Menschen in ihrem Herzen und dass einer der drei „die Erde” für sie bedeute. „Wenn ich der Fluss bin, ist er das Flussbett. Das brauche ich, den Halt, den Alltag und im Garten zu arbeiten.” Der zweite (Karsten) bringe die „Energie, das Funkeln, Ausprobieren und Experimentieren” und ihr dritter fester Partner ist „der Wind. Der bewegt mich.”
Egoistisch sei das nicht. Im Gegenteil: „Wenn man einem Menschen nicht geben kann, was er braucht, dann ist es relativ egoistisch zu sagen, dann darfst du es gar nicht haben.” Deshalb zögert Karsten beispielsweise nicht mehr, die Geschenke des Lebens anzunehmen und betont: „Ich nehme nichts weg, sondern ich ergänze.” 20 Jahre lang lebte er monogam und war im Grunde unglücklich damit. Jetzt sei er viel entspannter, weil er bekomme, was er sich wünsche und das wirke sich auch positiv auf seine andere Partnerschaft aus. Da er Premal nur selten sieht, findet er die Begegnungen besonders intensiv.
Lebendigkeit
Immer wieder kommen wir von der Liebe aufs Leben. Karsten wird nachdenklich und ist sich sicher: „Ich möchte nicht mit 85 im Lehnstuhl sitzen und sagen: ’Ach, hätte ich mal mit 40 das und das getan. Jetzt ist es zu spät!’ Jeder Mensch hat nur ein Leben. Das sollte man nutzen!” Ganz traurig findet er verlorene Lebenszeit vor dem Fernseher. „Was Besonderes zu machen und Spontaneität zu leben. Das fällt für mich wieder unter diesen Begriff „Leben”. Dieses ‘Sich-nicht-Zurücknehmen’, sondern das zu tun, wonach einem gerade auch ist und daraus auch zu zehren.”
Dann erzählt Premal mit leuchtenden Augen von ihrer Liebesforschungsgruppe, die sich in regelmäßigen Abständen trifft und sich austauscht. „Da passiert gar nichts Sexuelles. Wir liegen nur in der Mittagspause in Reihe, also hintereinander in Löffelchen und liegen da zusammen. Dieses “Rudelgefühl”, was ich da habe, da lauf ich über vor Liebe und das hab ich tatsächlich auch beim Tantra. Grundsätzlich schwebt da so eine Liebe drüber. Da ist kein ‘Wir müssen was erreichen!’ Ich muss mich nicht verstellen. Ich darf einfach sein, wie ich bin und ich glaube, das macht, dass ich mich geliebt fühle. Gemeinsames Essen und Kuscheleinheiten geben Premal Energie: „Das ist einfach nur großartig, so eine ganze Gruppe zu haben. Die kümmern sich. Das ist wie eine Familie.”
Im Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) existiert eine Liebesakademie, von der sich eine eigene Hamburger Gruppe abgespalten hat. Die Treffen finden alle drei Monate mit wechselnden Themen statt. Das gemeinsame Tanzen, Singen von Mantren oder Massagen können Teil des Programms sein. Darüber hinaus leistet die Liebesforschungsgruppe Aufklärungsarbeit zu wichtigen Themen wie Sex im Alter oder Safer Sex, ein Thema, das besonders in polyamoren Beziehungen zum verantwortungsvollen Umgang gehört.
Selbstliebe durch Tantra
Tantra, wie es hier in Europa praktiziert wird, ist für Karsten ein Way of Life, der in einer besonderen Art achtsam und wertschätzend mit anderen Menschen umgeht. Er schätzt es, in einer geschützten Gruppe nicht nur tiefgründige Gespräche über alles zu führen, was das Menschsein betrifft, sondern auch intensiv Zeit zu mit anderen zu verbringen. Dabei steht die Persönlichkeitsarbeit im Fokus, die von Körperarbeit wie Massagen begleitet wird. Hierbei soll die Wahrnehmung des Körpers gestärkt werden.
Dabei spiele es keine Rolle, ob der Mensch jeweils jung, alt, dick, dünn, gehörlos oder blind ist oder nur noch eine Brust hat. „Alle sind total gleichwertig integriert. Es sitzt ein Mensch vor einem mit einem Wunsch, einem Bedürfnis und das ist eine so schöne Annahme, so eine Wertschätzung des Lebens und des anderen Menschens. Das baut eine Verbindung auf, die einfach mit nichts, das ich bislang kennengelernt habe, vergleichbar ist.”
Berührung
Nachdem sie vier Kinder geboren hat, dachte Premal zunächst, dass sie sich nie wieder im Bikini, geschweige denn nackt zeigen würde. Geholfen haben ihr das Tantra, die Erfahrung in der Liebesforschungsgruppe und Karsten.
Wie Frischverliebte schauen sich Premal und Karsten immer wieder an, berühren sich am Arm und suchen Nähe. Bei einem Tantra-Workshop haben sich Karsten und Premal vor anderthalb Jahren kennengelernt. Was Tantra für Premal bedeutet? „Für mich sind es Selbstentwicklung und Selbsterfahrung und dann tatsächlich Selbstliebe zu erfahren. Erst dann, wenn ich mich lieben kann, kann ich auch andere lieben. Über diese Berührung angenommen zu sein und mich immer wieder nackt zu zeigen und damit immer wieder verletzlich zu zeigen und zu sehen: Es wird nicht verletzt und ich darf sein, ist, glaube ich, ganz wichtig.” Liebevoll neigt sie sich Karsten zu und erklärt ihre große Freude und Dankbarkeit über diese besondere Verbindung.
So kommen wir auf die sogenannten Wunschabende in der Tantragruppe zu sprechen, bei der jeweils zwei Menschen einem anderen Herzenswünsche erfüllen. Zum Beispiel: „Ich wünsche mir jetzt, gehalten zu werden oder im Nacken gekrault zu werden, an den Füßen, am Rücken. Was auch immer man in dieser Dreiviertelstunde möchte, es ist die eigene Zeit und man kann völlig in dieses Genießen abtauchen.”
Karsten empfindet sehr stark, dass diese Art der Berührungen ihn nähren, und er verweist auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu den positiven Effekten der Oxytocinausschüttung.
Intimität
Tantrische Übungen können, wie Karsten meint, eine ganz „innige Herzensverbindung” entstehen lassen und dadurch intimer sein als Sex. Die tantrische Sonne-Mond-Übung mit Augenkontakt und Hand auf dem Herzen des Gegenübers empfindet er als besonders intensiv. „Man sitzt sich auf dem Schoß, ist sich wirklich sehr nah. Vielleicht atmet man auch gemeinsam.”
Dann sinniert er: „Wo fängt eigentlich Intimität an? Wo fängt eigentlich Sexualität an? Wo ist es Wellness?” Er könne zum Beispiel durchaus eine Ganzkörpermassage genießen, ohne dass er diese mit Sexualität in Verbindung bringen würde. Es ist seiner Ansicht nach sehr individuell, wo Intimität beginnt. Das kann beim Blick anfangen, über die Berührung, die nackte Berührung und intime Berührung bis hin zur Vereinigung reichen.
Bewegung
Premal ist Yogalehrerin und ich möchte wissen, ob es eine Yoga-Übung gibt, die für Liebe steht. Zwar könne sich bei der Meditation innerlich Liebe ausbreiten, sagt sie, aber mehr noch drückt sich Liebe für Premal in starken Bewegungen aus. „Ich liebe es, mit dir [Karsten] zu tanzen und herumzukugeln.” Wenn die beiden miteinander tanzen, dann ist das wie eine Sprache. „Er spricht mit mir, spielt mit mir und ich kann dem antworten und dann nimmt er mich einfach, schnappt mich und ich denke ‘Ahhhh. Wie? Ich jetzt? Diese alte dicke Frau?!’ ”erzählt sie herzlich lachend und fährt fort: “Ich fühl mich wie 14! Dass du mir das Gefühl gibst, 14 zu sein, das ist ein Wunder. Das lieb ich!” Karsten ergänzt:
Das spüre ich auch in jeder Sekunde beim anschließenden Fotoshooting in Planten und Blomen. Die beiden klettern durch sämtliche Absperrungen und Büsche. Sie suchen die schönsten Plätze am Wasser aus, um sich nah zu sein, Paar-Yoga-Übungen auf einem Bein stehend zu machen oder herumzutoben. Am liebsten würden sie das alles nackt machen, wie Premal mir lachend erklärt. In diesem Moment wirbelt Karsten Premal plötzlich durch die Luft, bevor sie sich küssen. Dann ziehen die beiden ihre Schuhe aus, krempeln die Hosenbeine hoch und turnen vor dem Wasserfall. Sehr lebendig ist das und ich komme – rückwärts über die Platten hüpfend – mit der schweren Fototasche kaum hinterher. Nach diesem sportlichen Shooting fahre ich mit einem Lächeln und schmatzenden Schuhen nach Hause. Danke, Premal und Karsten, für diese energiegeladene Zeit und eure Offenheit. Warum nicht auch einmal mehr im Alltag Momente der Spielfreude zulassen oder intensive Berührungen genießen?