Chemie

Chemie

Heute lerne ich Olga kennen.1 Eigentlich wollte ein Bekannter von ihr über Liebe in Zeiten des Krieges sprechen und darüber, wie man als Geflüchteter jemanden kennenlernt. Als er dann doch kalte Füße bekam, ist sie ohne zu überlegen eingesprungen. Denn: Zum Begriff „Liebe” fiel ihr sofort etwas ein: „Mein Beruf!” 

L(i)ebe deinen Traum
Olga ist Ärztin und Dozentin für Innere Medizin und vor etwa einem Jahr aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Sie erzählt mir gleich, wann die Leidenschaft für diesen Beruf begann:

„Schon als Mädchen habe ich Puppen operiert. Ich war ungefähr fünf, als ich das erste Mal eine Puppe aufgeschnitten und meinen Eltern gesagt habe: ‘Ich will Ärztin werden!’“

Olga

Ihre Eltern waren zunächst nicht so begeistert von der Idee, weil sie ihr nicht hätten helfen können. Es gab bis dahin keinen Mediziner in der Familie. „Meine Mutter hätte lieber gehabt, dass ich BWL, Jura oder Pharmakologie studiere, wenn es schon unbedingt etwas Medizinisches sein muss. Aber ich habe das alles abgelehnt”, erklärt sie stolz und ergänzt auf Deutsch: „Träumen” und lächelt. 

Nach einer Ausbildung zur Krankenschwester wartete Olga zwei Jahre auf einen Medizinstudienplatz in Charkiw. „Als Krankenschwester habe ich ein Jahr in der Kinderneurologie gearbeitet und bin kaum nach Hause gegangen. Ich hab da quasi gewohnt.” Viele Kinder, die auf der neurologischen Station lagen – der einzigen im ganzen Bezirk – bekamen selten Besuch von ihren Eltern, wenn diese weiter weg wohnten. Deshalb brachte Olga ihnen manchmal Essen von zu Hause mit und kümmerte sich besonders um sie.

Nach dem Studium bekam sie einen Platz in der Notfallmedizin zugewiesen, den sie annahm, obwohl sie eigentlich lieber Gynäkologin geworden wäre.2 Sie erzählt von Fällen, die sie in den letzten 13 Jahren im Rettungsdienst begleitet hat. Da waren Entbindungen im Rettungswagen und viele Herzinfarkte, aber auch demenzkranke Menschen, die den Notarzt riefen, damit ihnen jemand das Licht ausschaltet, wie sie augenzwinkernd berichtet und es gab Fälle, wo ihr Leben bedroht war. Sie erzählt von Suchtpatienten aus dem Drogenmilieu und wie sie einmal von einer Spezialeinheit wie eine Geisel befreit werden musste. „Meine Eltern waren dann dagegen, dass ich den Beruf weiter ausübe, wenn es so gefährlich ist, aber sie konnten mich nicht überreden, weil ich eben so gern als Ärztin arbeite und Menschen helfe.”

Warten statt Heilen
Als der Krieg am 24.2.2022 in der Ukraine beginnt, hört sie um fünf Uhr morgens Explosionen und denkt im ersten Moment an ein Feuerwerk. Die Jalousien sind unten und doch ist es hell, zwischen den Lamellen leuchtet es rot. Alles draußen ist rot erleuchtet. Dann erkennt sie, was passiert, rennt nach unten zu ihren Eltern und ruft: „Mama, Papa. Der Krieg hat angefangen.”

Olga flieht zunächst gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder und dessen Familie in die Westukraine. Sie verstecken sich dort im Keller eines Wohnhauses, der ihnen von fremden Menschen spontan zur Verfügung gestellt wird. Dort leben sie vier Monate lang. Dann scheint es erst einmal ruhiger zu werden und sie kehren alle nach Charkiw zurück, bis wieder Angriffe von russischer Seite kommen. Olga wohnt nur 30 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Aufgrund der kurzen Distanz hat die Luftabwehr dort Schwierigkeiten, Raketen rechtzeitig abzufangen. Als sich auch körperlich der Dauerstress bei Olga bemerkbar macht, entschließt sie sich, die Ukraine zu verlassen. Ihre Schwägerin will nicht mit der Nichte nach Deutschland fliehen, sondern bei ihrem Mann bleiben; und der darf nicht ausreisen.

Zuerst lebte Olga mit ihrer Mutter in einem Flüchtlingswohnheim. Inzwischen hat sie eine eigene Wohnung. Sie will auf jeden Fall wieder in die Ukraine zurück. Bisher erschien ihr das zu unsicher, auch wenn es seit zwei Monaten keine Bombenangriffe mehr in Charkiw gab. In Deutschland ist es schwierig, eine Approbation als Ärztin zu bekommen, wenn man nicht in der EU studiert hat.3 Olga würde am liebsten sofort hier weiterarbeiten, aber sie wartet auch nach einem Jahr noch auf einen Sprachkurs. Was sie sich wünscht? „Ich möchte auf jeden Fall, egal wie das hier in Deutschland alles verläuft, wieder im Medizinbereich arbeiten und beruflich keine Kompromisse eingehen.” 

Das Erste, was sie getan hat, bevor sie in der Ukraine aufgebrochen ist, war, ihre private medizinische Ausrüstung zusammenzupacken: ihr geliebtes Doppelkopf-Stethoskop, ein Blutdruckmessgerät, Medikamente und Spritzen. Auf ihrem Weg nach Deutschland hat sie in mehreren Flüchtlingswohnheimen Station gemacht. Dank ihrer Erstdiagnose erhielten viele Geflüchtete schneller Hilfe bei Notfällen. Manchmal setzte sie auch Heparin-Spritzen, wenn Menschen das nicht allein konnten. Denn: „Im Wohnheim wissen die Menschen oft nicht, was sie tun sollen oder wie sie einen Rettungsdienst rufen sollen, besonders am Wochenende.”

Ferndiagnosen
Im Studium belegte sie einen Kurs über medizinische Versorgung in Kriegszeiten. Dass sie aus Sicherheitsgründen gehen musste und jetzt nicht in der Ukraine helfen kann, macht sie manchmal traurig. Dann erinnert sie sich: „In der Ukraine war ich auch immer verfügbar für andere Menschen, wenn sie medizinische Notfälle hatten. Mein Bekanntenkreis und die Nachbarn, die wussten das alle. Sie durften mich immer anrufen, auch mitten in der Nacht. Gerade nachdem der Krieg angefangen hat – ich war ja noch ein halbes Jahr in der Ukraine – war es dort schwierig, einen Notarzt zu bekommen, und da sind noch mehr Leute auf mich zugekommen. Ich werde heute noch immer aus der Ukraine angerufen, um medizinischen Rat zu geben und telefonisch zu helfen. Bei mir melden sich Menschen, die selbst Flüchtende sind und in der ganzen Welt verteilt sind, zum Beispiel Ukrainer, die jetzt in Spanien leben. Ich mache das immer unentgeltlich, weil ich einfach nicht leben kann, ohne den Job.4 Es ist eine Riesenfreude, wenn die Menschen dann hinterher zurückrufen und sagen, dass die Behandlung angeschlagen hat.

Chemie der Liebe
Zurück zum Thema „Liebe” beziehungsweise „Verliebtsein”. Mich interessiert ihre medizinische Sicht auf dieses faszinierende Phänomen, das ja in einigen Kulturen sogar als Krankheit gilt. Sie lacht und sagt:

„Für mich ist Liebe Chemie.”

Olga

Wird die Liebe nicht erwidert, kann es sich auch „wie eine Krankheit” anfühlen, ganz zu schweigen vom Broken-Heart-Syndrom, das zeigt, dass ein gebrochenes Herz keine Lappalie darstellt. Jugendliche leiden ihrer Erfahrung nach besonders stark an unerfüllter Liebe. Zudem hat sie als Ärztin oft erlebt, dass ältere Menschen kurz nach ihrem Partner sterben, weil vielen dann der Lebenssinn verloren geht. Daher findet es Olga wirklich bedauerlich, dass es kein Medikament gegen Liebeskummer gibt. Sie empfiehlt aber „eine Mischung aus psychologischer Hilfe und einer Beschäftigung, so etwas wie Sport”, um wieder auf die Beine zu kommen. 

Schließlich spricht sie auch von den positiven Effekten der Liebe auf den Heilungsprozess: „Ich habe oft von solchen Fällen gehört, dass Menschen plötzlich gesund geworden sind, unter anderem aus der Onkologie, wo sich der Krebs verlangsamt hat, wenn jemand plötzlich eine gute Beziehung oder jemand Neues kennengelernt hatte. Gute Emotionen sind immer sehr positiv, egal bei welcher Krankheit!”

Ich bedanke mich für das Gespräch und die Offenheit, nicht nur über die Leidenschaft zum Beruf, sondern auch über das in der Ukraine Erlebte zu sprechen. Ob Olga bald wieder ihren Traumberuf ausüben kann? Ich wünsche es ihr von Herzen.


  1. Das Gespräch wurde auf Russisch geführt und simultan von einem Dolmetscher übersetzt. Vielen Dank an Evgeny an dieser Stelle! ↩︎
  2. In der Ukraine sind Studierende, die ein staatliches Studium absolvieren, drei Jahre lang verpflichtet, in einem zugewiesenen medizinischen Bereich zu arbeiten. ↩︎ ↩︎
  3. Dafür muss eine Gleichwertigkeitsprüfung abgelegt werden und mindestens ein B2-Deutsch-Zertifikat vorliegen. ↩︎
  4. In der Ukraine verdienen Ärzte nach einer Reform derzeit etwa 500 Euro. Davor war es nur die Hälfte. ↩︎